Von Infrastrukturen und dem deutschen Gesundheitssystem

Was das solide deutsche Gesundheitssystem und seine Digitalisierung mit dem schönen Sizilien zu tun haben? <Überspitzung> Beiden steht in der Theorie eine geregelte Infrastruktur zur Verfügung, in der Praxis müssen sie sich aber allzu oft mit organisiertem Chaos herumschlagen, behaupten zumindest spitze Zungen. </Überspitzung> Dass Sizilien sowie das deutsche Gesundheitssystem die ihnen gesetzten Herausforderung täglich stemmen, liegt vielmehr an der intensiven Abstimmung und Zusammenarbeit der Menschen. Der damit verbundene erhöhte Kommunikationsaufwand kann durch eine digitale Infrastruktur reduziert werden, sodass gleiche Probleme nicht immer wieder neu angegangen werden müssen. Eine solche digitale Infrastruktur muss die Gesundheitsakteure niederschwellig verbinden und diese sowohl zur routinierten Souveränität und Kooperation ermächtigen als auch eine dezentralisierte Macht-Balance der Akteure forcieren. Wird die Telematikinfrastruktur 2.0 (Hashtag#TI) diese Kriterien erfüllen?

Auf Reisen, zuletzt im wunderschönen Sizilien, stolpere ich oft über meine alltäglichen Selbstverständlichkeiten, z. B. meine Abhängigkeit von gewohnten Infrastrukturen. Spätestens dann werde ich mit Alltagsproblemen konfrontiert, die mir sonst selbstverständlich von Infrastrukturen abgenommen werden – gerade was die Mobilität und öffentlichen Dienste betrifft. Denn die Voraussetzungen funktionierender Alltags-Routinen müssen wir uns nicht ständig bewusst machen. Bereits die Bezeichnung Infra-Struktur möchte uns sagen: Ich bin zwar „unten“ und deswegen oft verdeckt, aber doch nur weil ich das Grundgerüst bin. Wir schauen ja auch nicht dauernd auf den Boden, wenn wir einen Weg folgen, sondern verlassen uns auf seine stabile Grundlage.

Wer aber stellt diese Selbstverständlichkeiten sicher zur Verfügung? Sollte eine gemeinsam genutzte Infrastruktur unbedingt ein öffentliches Gut sein, wenn sie möglichst unabhängig von privaten Interessen funktionieren muss? Jedenfalls sollte ein niederschwelliger, möglichst demokratiserter Zugang zur Infrastruktur gewährleistet sein, damit diese zu alltäglichen Routinen ermächtigen anstatt Hürden für die gesellschaftliche Teilhabe aufzubauen. Ist das eine Bedingung, die nur ein demokratisch legitimierter Staat sicherstellen kann? Wie kann aber gleichzeitig die Monopolisierung und der Machtmissbrauch (auch durch eben diesen Staat) verhindert werden, wenn Infrastrukturen zur Selbständigkeit ermächtigen sollen statt zu (neuen) Abhängigkeiten zu führen?

Das bisher hauptsächlich in der analogen Welt verwendete Konzept einer Infrastruktur findet nur langsam in den digitalisierten Raum. Die Voraussetzungen digitaler Dienste sind zwar noch undurchsichtiger als jene analoger Infrastrukturen, aber gerade dadurch sind sie umso wirksamer. Mit der Reduktion der Zugangshürden für Konsumenten, u. a. durch kostenlose Dienste, steigt die Abhängigkeit im Alltag. Der damit verbundene Anspruch von GAFAM (Google, Amazon, Facebook/Meta, Apple, Microsoft) auf die Rolle eines inoffiziellen digitalen Infrastrukturanbieters schüttelt an den Grundpfeilern der politischen Regulatorik – nicht nur in der EU. Für sie ist die Sache klar: „In einer Demokratie sind die größten Plattformen nicht berufen, um über die Spielregeln zu entscheiden“, so die EU-Kommisarin für Digitales und für Wettbewerb Margrethe Vestager. Es geht also darum, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der Datenmonopole verhindert, einen fairen Wettbewerb ermöglicht und dadurch Innovationen fördert. Bevor dieser Rahmen mit domänenübergreifenden Gesetzen wie dem Digital Service Act bzw. Digital Markets Act, sowie domänenspezifische Maßnahmen wie der eHealth Digital Service Infrastructure im Detail verfügbar ist, wird mit GAIA-X und anderen Ideen für einen europäischen Datenraum bereits an  technische Rahmenspezifikationen gearbeitet, um eine Richtschnur für die Datenspeicherung und -kommunikation zu bieten.

Aus dem Gesundheitsbereich wissen wir: Die Verfügbarkeit und Interoperabilität von Daten können lebensnotwendig sein. Die Aufrechterhaltung unseres körperlichen und psychischen Funktionierens im Alltag wird in der Regel genauso als selbstverständlich betrachtet wie die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssystems. Auch hierfür werden die Voraussetzungen immer digitaler. Das fängt bei der Informationsbeschaffung als Kerngeschäft der Digitalisierung an, z. B. in Arztpraxen, geht bei dessen Verwendung in innovativen diagnostischen und therapeutischen Methoden – bspw. in Krankenhäusern – weiter und findet in der Rehabilitationsassistenz oder der Verwendung von Gesundheitsapps zur Prävention in den persönlichen Alltag. Hier kommt die Telematikinfrastruktur (TI) des Gesundheitswesens ins Spiel, die u. a. dafür sorgen soll, dass die dahinter liegenden (digitalen) Prozesse möglichst flüssig miteinander kommunizieren können. Der Gesundheitsbereich zeigt aber auch, dass eine Infrastruktur nur so gut ist, wie die Erfüllung ihrer Teilnahme-Voraussetzungen. Auch das wird aktuell in der Gesundheitspolitik fokussiert, z. B. durch die Förderung der Digitalisierungsreife von Krankenhäusern durch das KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz). Dabei gilt, dass Infrastrukturen auf Jahrzehnte und Jahrhunderte ausgelegt sind. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Einführung solcher Großvorhaben nicht immer reibungslos verläuft. Auch bei der Telematikinfrastruktur sind deswegen die eingangs erwähnten Anforderungen an eine selbstverständlich genutzte Infrastruktur noch nicht ausreichend erfüllt: Ein niederschwelliger Zugang, der durch alltägliche Routinen zur Souveränität ermächtigt und durch dezentralisierte Balance einschränkende Abhängigkeiten vermeidet. Dafür visiert die gematik bereits die TI 2.0 mit der Arena als Metapher an und folgt damit der häufig gestellten Forderung, das Spielfeld für alle Akteure anzugleichen („level the playing field“) – hoffentlich um nicht gegeneinander, sondern effizienter miteinander „spielen“ zu können. Wie gut das klappt, werden die nächsten Jahre zeigen, denn auch Routinen müssen erst eingespielt werden.

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