Fragilität: Über die Grenzen des Erklärens

Publiziert in „Mosaik, Zeitschrift für Literatur und Kultur, Salzburg, Winter 2018“

Wenn wir uns überlegen, was alles schief laufen könnte, staunen wir oft über die scheinbare Leichtigkeit und Stabilität der Welt, der Gesellschaft, des Menschens. Vielleicht entsetzt es uns gerade deswegen, wenn sich die Fragilität unserer Welt und unseres Lebens zeigt. Eine Kleinigkeit reicht, und plötzlich ist alles anders.

Erstaunen und beunruhigen uns die Installationen von Jose Davila’s Ausstellung „Die Feder und der Elefant“ gerade deswegen? In verdichteter Form sehen wir die Spannung und Zerbrechlichkeit, die in der Balance der Dinge liegen. Wir spüren, dass die scheinbare Stabilität eine fragile Basis hat, und dass ein ausgewogenes Zusammenspiel der Kräfte dafür nötig ist. Dieser Widerspruch kann entsetzen. Die gleichförmigen und ordentlichen Steinmännchen, wie sie oft von Wanderern in ihrem Müßiggang aufgetürmt werden, entsprechen dann schon eher der Sehnsucht nach einem ausgewogenen Idealbild im Durcheinander der Welt (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Welche Metapher entspricht der Balance der Welt?
(Links Installationen von Jose Davila in der Hamburger Kunsthalle, rechts Steinmännchen an Wanderwegen).

Diese Metaphern dienen durch ihre Symbolisierung und Einfühlung als Einstiegshilfe zur Erklärung des instabilen Charakters der Fragilität. Wir wollen nach dem Fühlen oft aber auch in aller Nüchternheit verstehen und hinterfragen. Neugierige Kinder hören oft als Antwort auf ihr Hinterfragen den abwürgenden und niederschmetternden Satz „Es ist kompliziert“! Und tatsächlich scheint das Leben, die Gesellschaft, die Welt undurchsichtig, verwickelt und umständlich zu sein. Ein großer erster Schritt zur Verständlichkeit wäre bereits, in wissenschaftlicher Manier, die Reduktion von Kompliziertheit zu Komplexität. Das geschieht durch die Reduktion der zahlreichen Einflussfaktoren der Fragilität, wodurch aufgezeigt wird, dass nicht die scheinbar hohe Anzahl von Einflussfaktoren ausschlaggebend ist, sondern die zahlreichen Interaktionen zwischen wenigen Kernfaktoren. In diesem Sinn ergeben sich dramatische Ereignisse der Fragilität oft nur aus dem häufigen Auftreten von einfachen Alltagsereignissen.

Im Gegensatz zum steten Tropfen, der den Stein höhlt oder das Fass zum Überlaufen bringt, ist der ursächliche Prozess hinter dem Phänomen der Fragilität jedoch in der Regel intransparent und nicht klar beobachtbar. Deswegen sieht es so aus, als ob eine Kleinigkeit reicht, und alles plötzlich anders ist, aber eigentlich prägt sich bloß etwas aus, das sich im Hintergrund aufgebaut hat und bei Vorhandensein passender Bedingungen in der Welt – scheinbar plötzlich – ausbricht. Das wird oft als Emergenz bezeichnet, und diese zeigt sich wiederrum oft als Fragilität. In diesem Sinn ist Fragilität nur die sichtbare Spitze des sprichwörtlichen schwimmenden Eisberges. Ob das Lebenskrisen mit großer Auswirkung sind oder Gesellschaftskrisen, die oft mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden sind – sie alle können als Effekt eines solchen undurchsichtigen Prozesses betrachtet werden.

Das bloße explorative Aufzeigen der Emergenz solcher Ereignisse wäre ein erster wichtiger Schritt, um auf die wesentlichen Kernprozesse hinter einem fragilen Phänomen hinzuweisen, wenn es diese überhaupt gibt. Das benötigt synthetische Methoden, das Phänomen muss also erstmal repliziert werden, wenn auch nur im Kleinen. Erst im zweiten Schritt kann versucht werden, die Einflussfaktoren dieser Kernprozesse analytisch zu erklären. Beide Schritte bedingen eine Theorie, oder zumindest Grundannahmen. Eine Theorie bietet bekanntlich eine widerspruchsfreie Erklärung für Phänomene, also Erscheinungen in der Welt und erklärt die Relevanz ihrer Einflussfaktoren. Für viele Bereiche klappt das ganz gut. Eine der letzten Bastionen scheint das selbstreferentielle Erklären der menschlichen Psyche zu sein: Sie will ihre Funktion unter Einsatz eben dieser Funktion selber erklären. Theoretisch müsste das möglich sein, wenn ein Laplac‘scher Dämon realistisch wäre. Nach einem Gedankenexperiment des Mathematikers Laplace wäre das der Fall, wenn ein allwissender Dämon alle Naturgesetze und Fakten einsetzen könnte, um die Welt zu erklären und Ereignisse vorherzusagen.

Hier hallt der tiefe Glaube an eine deterministische Welt wider, den die Wissenschaft als Institution benötigt. Aber können wir alles uneingeschränkt vorhersagen, wenn wir nur alles über ein Phänomen wissen? Wäre eine deterministische Erklärung des menschlichen Verhaltens möglich, wenn wir nur alles im Detail beschreiben und berücksichtigen könnten? Emile Zola hatte als Naturalist diesen Anspruch. Nicht weniger als 20 Romane über die Geschichte einer Familie im 19. Jahrhundert verfasste er, um alle Einflussfaktoren auf den Werdegang von Menschen einzufangen. Beispielsweise will er mit der Wäscherin Gervaise aufzeigen, wie der Einfluss der Gene, der Erziehung, des Milieus und auch der politischen Bedingungen die Lebensentwicklung eines Menschen bestimmen. Die aufstrebende Gervaise versucht sich einem Teil des Einflusses zu entziehen, fällt jedoch letztendlich in das gleiche Schema ihrer alkoholkranken Familie. Zola dreht die zwei im letzten Absatz beschriebenen Schritte um: Zuerst werden alle Einflussfaktoren aufgezeigt, erst dann kann ihre Relevanz bestimmt werden. Den Zusammenhang von Faktoren in 20 Romanen zu erkennen, kratzt jedoch zumindest an die Grenzen unserer Auffassungsgabe. Hier bietet das Theater ein geeignetes Format, um die Menge der empirischen Darstellungen in Zolas Romane in Einzelaussagen zu verdichten. Das passiert bereits durch das Bühnenbild der „Trilogie meiner Familie“ von Luc Perceval als Theaterabstraktion von Zolas Werken (siehe Abbildung 2). Das Leben ist ein Auf und Ab und alles ist in Schwebe. Im Falle Gervaise führt das jedoch zum Hinken und Fallen.

Abbildung 2: Können wir das Auf und Ab des Lebens durch Schweben überbrücken, oder führt es dazu, dass wir noch heftiger fallen? (Luc Percevals Inszenierung „Trilogie meiner Familie“ im Thalia Theater Hamburg basierend auf Emile Zolas Werk)

Dieses Verhältnis zwischen Literatur und Theater entspricht in diesem Beispiel einer zweistufigen Induktion. Literatur bereitet Empirie auf, sodass Theater den Stoff abstrahieren und verdichten kann. Welche wissenschaftliche Methode kann ein ähnliches Verhältnis zur Erforschung menschlichen Verhaltens bieten – in einer nachvollziehbaren und testbaren Form? Ein Kandidat dafür – in anderen Bereichen seit langem etabliert – ist die Computersimulation als synthetische Methode für den eingangs erwähnten explorativen ersten Schritt sein. Zur Erforschung menschlichen Verhaltens wird sie noch vorsichtig eingesetzt. Sie kann jedoch empirische Daten mit theoretischen Annahmen zusammenbringen und durch Simulationsexperimente deren Beziehung erforschen. Dadurch bietet sie eine geeignete Plattform zur Erforschung von fragilen Phänomenen: Eine Kleinigkeit reicht, und plötzlich ist alles anders. Wie kann es beispielsweise sein, dass durch eine kleine Änderung des Aussehens einer Person oder ihrer Aussagen, Menschen miteinander konkurrieren statt kooperieren, kämpfen statt fliehen, oder umweltfeindlich statt umweltfreundlich handeln? Im Sinne der oben beschriebenen Emergenz kann in Simulationen, die vom Autor durchgeführt wurden, gezeigt werden: Das Zusammenspiel von normativen und triebhaften Kernprozessen wird bereits durch kleine Änderungen der Wahrnehmung von Personen in einem Ausmaß beeinflusst, das zum scheinbaren Umkippen des Verhaltens von der Kooperation zur Konkurrenz führen kann. Es scheint nur so, als ob eine Kleinigkeit reichen würde, und plötzlich ist alles anders. Die Computersimulation zeigt uns dabei jedoch die einzelnen Ursachen und die Entwicklung, die zu dieser scheinbaren Fragilität geführt hat, also ihre für unsere Auffassungsgabe sonst intransparenten Hintergrundprozesse. Dabei hat die Computersimulation ähnlich der Simulation im Theater selbstverständlich ihre Grenzen. Eine Entzauberung der Welt wäre also auch hier nicht zu befürchten.

Samer Schaat

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